Kharim, meine Stütze (3)

Irgendetwas hat uns zu dem Fest gebracht. War es eine ausgesprochene Einladung oder ein alljährlich zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindendes Ereignis? Ich weiß es nicht mehr. Es ist auch nicht wichtig. Wir sind jetzt da.

Die Luft im Zelt ist drückend warm. Es ist kaum Platz zum Atmen. Die Menschen essen, trinken und lachen. Es ist Ohren betäubend laut in dem Zelt. Eine Art Grill ist um die Stange im Zeltmittelpunkt aufgebaut. Holzkohlen garen das Fleisch, das auf einem eisernen Gitter dahinschmort. Es ist helles Fleisch. Große fette Brocken. Die Menschen stecken es sich in den Mund und Rauch steigt aus ihren offenen Mäulern auf, wenn Sie das noch heiße Fleisch im Mund hin- und herschieben, um sich den Gaumen nicht zu verbrennen. Es scheint, als kümmere sich niemand um uns. Wir werden zwar wahrgenommen, jedoch spricht uns niemand an. Jeder ist mit sich und der Umgebung beschäftigt.

Kharim und ich sind zu einer Einheit verschmolzen. Fast scheint sein Gefieder so rot wie meine Kleidung. Es sind viele hier in ihren mongolischen Gewändern.

Wir kämpfen uns durch die Menschen in Richtung Ehrengast-Bereich. Dort sitzen schon einige Männer am Boden auf einem Teppich. Es sind die Ältesten. Die Weisen. Was soll Kharim hier drinnen? Kunststücke kann er keine vorführen. Dazu ist das Zelt zu klein. Dazu braucht er den gesamten Himmel. Dort ist er kreativ in seiner Kunst. Es gibt nur Wenige, die ihm ebenbürtig sind in seinem Metier. Und ich bin privilegiert. Ich bin der Einzige, dessen Ruf er folgt, auch wenn er ganz im Blau des Himmels aufgegangen ist. Zu mir kehrt er zurück. Auch ohne Lockvogel in meiner Hand. Er liebt mich und genießt meine Begleitung.

 

Wir stellen uns vor die am Boden sitzenden Männer. Und jetzt weiß ich, was wir hier tun. Wir sagen weis. Kharim ist mein Orakel. Die Männer stellen Fragen. Kharim bewegt sich ganz leicht und ich interpretiere seine Bewegungen. Jede kleine Geste von ihm. Jedes Zucken mit dem Kopf. Er spricht mit mir auf diese Weise und ich brauche nur für die Ältesten übersetzen. Die Anderen im Zelt interessiert das nicht. Sie interessieren sich nur fürs Essen.

 

Die Männer stellen alle möglichen Fragen. Auch persönliche. Kharim entscheidet über ihr Schicksal und manchmal über das Schicksal einer ganzen Sippe. Sie zweifeln an keiner Aussage von ihm. Und er zweifelt an keiner Übersetzung von mir. Die Übersetzung ist mein Metier. Kharim respektiert das und plaudert fröhlich weiter. Erst als alle Fragen beantwortet sind, dürfen wir uns zu den Ältesten setzen und das Fest genießen. Wir sind jetzt zwei von ihnen. Sie prosten uns zu, stoßen mit ihren Blechbechern an meinen, klopfen auf meine Schultern und streicheln Kharim übers Gefieder. Jetzt erst kommt ein Gefühl der Zugehörigkeit auf. Ein Gefühl, das sich sonst selten bei mir einstellt – bin ich doch ein Einzelgänger. Ich genieße dieses Gefühl in diesem Moment, weil ich weiß, dass ich es morgen schon nicht mehr ertragen kann.