Ein rotes Zelt auf sandigem Boden. Es ist Abend oder Nacht. Kharim krallt sich fest an meinem ledernen Unterarm.
Er ist schwer. Das hat mich schon immer fasziniert. Ein schwerer Vogel, der in der Luft schwebt, als wäre er schwerelos.
Ein Fest dürfte in Gange sein. Wir sind auf dem Weg dahin. Ein riesiges Festzelt. Man hört schon Stimmen. Auch Wärme fühle ich. Also ob geheizt wird in dem Zelt. Ich trage rote orientalische Kleidung. Kharim schaukelt seinen Körper hin und her. Er ist blind. Die Kapuze taucht ihn in tiefe Nacht. Er vertraut mir voll und ganz. Ich bin seine Augen. Hier am Boden. Der Boden ist nicht seine Heimat. Der Himmel ist es. Dort oben späht er. Sieht alles. Leiht mir manchmal seine Augen, damit ich den Überblick behalte. Wir sind Eins. Wir ergänzen uns. Darin besteht unsere innerste Verbundenheit. Der Eine leiht dem Anderen, was diesem gerade fehlt. Ich muss gestehen, dass ich wahrlich mehr profitiere. Durch ihn bekomme ich den Himmel geschenkt. Und wie danke ich es ihm? Indem ich ihm eine Haube über den Kopf stülpe? Eine schöne zwar, aber trotzdem. Ich fühle mich gar nicht wohl, wenn ich sie ihm über den Kopf stülpe. Er wehrt sich nicht. Hat sich noch nie gewehrt. Er scheint sein Schicksal zu kennen und sich ihm hinzugeben. Wenn ich das doch auch könnte. Annehmen. Annehmen, was anzunehmen ist. Mich der Schöpfung ganz hinzugeben. Im Vertrauen. Er vertraut mir. Ich bin sein Alles. Wieso kann ich nicht vertrauen. Ständig greife ich ein. Versuche zu lenken, zu steuern. Ist es nicht manchmal besser, das Ruder loszulassen und dem Wind zu vertrauen, dass er einen an den richtigen Ort weht? An einen Ort, den man ohne den Wind möglicherweise nicht gefunden hätte. Ein Ort, der alle Möglichkeiten eröffnet, die man sich nur vorstellen kann. Ein Schlaraffenland der Möglichkeiten. Man futtert sich durch Abenteuer bis man satt ist. Und am Abend fällt man trunken vor Freude ins Bett. Selbst die Träume sind von süßem Geschmack. Sie riechen nach den tollsten Gewürzen. Von süß bis scharf. Will man von so einem Ort wieder weiterziehen? Nicht gleich. Erst wenn die Süße, das Märchenhafte, das Abenteuerliche einen schalen Geschmack bekommen. Wie viel schalen Geschmack erträgt man? Und wie lange? Oft ein Leben lang.
Wir nähern uns der Tür zum Zelt. Kharim ist ein wenig nervös. Für ihn öffnet sich gleich eine neue Welt. Eine Welt, in die er nicht gehört. Das weiß ich. Ich bin jedoch zu schwach und nehme ihn als Stütze mit. Als etwas, an dem ich mich anhalten kann. Das es mir erträglich macht, unter die Menschen zu treten. Ich, der ich sie führe, brauche eine Krücke, um überhaupt unter ihnen sein zu können